Erschreckende Bilder sehe ich täglich an der S-Bahn-Station Harburg-Rathaus in Hamburg. Dort sitzen obdachlose Menschen, die nicht nur meine Gefühle bewegen, sondern auch meine Gedanken.
Jedes Mal frage ich mich, warum in Hamburg so viele Menschen auf der Straße leben. Bei jedem Wetter und bei Minusgraden sitzen sie in der Hansestadt und haben kein Dach über dem Kopf.
Hamburg: Hier sieht es wie im Kriegsgebiet aus
Diese Zahl hat mich schockiert. Wir leben doch in Europa und nicht in Syrien – das Land, aus dem ich komme und in dem seit über zehn Jahren ein Krieg herrscht.
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Eine reiche Stadt wie Hamburg kann es sich doch leisten, die Menschen von den Straßen zu holen und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Oder? Hier erzähle ich euch die Geschichte eines Obdachlosen aus Hamburg.
Eine blaue Yoga-Matte, zwei Decken und ein weiches Kissen. Das ist alles, was er hat. Er ist fast 1,90 Meter groß. Seine Mütze wurde sicher seit einiger Zeit nicht gewaschen, doch sie tut, was er von ihr erwartet. Sie wärmt seine Glatze. Seine Hände haben seit langem kein Wasser mehr gespürt, sie sind schwarz und schmutzig.
Im Januar 1981 wurde er geboren. Von einem amerikanischen Vater und ehemaligen Soldaten sowie einer deutsch-russischen Mutter. Zuhause war für ihn die Hölle. Die Mutter war drogenabhängig. Sie ließ ihn hungern und missbrauchte ihn mehrfach. Der damals Sechsjährige zog nach Buxtehude zu seinen Adoptiveltern. In der Hoffnung, dass er seinen Missbrauch vergessen kann.
Als Jugendlicher hatte Alexander Harm den großen Traum, Profiboxer zu werden. Das Leben schenkte ihm die Chance, seinen Traum zu erfüllen. Er gewann den Titel Junioren Hamburger Meister. Dieses Erlebnis wird er nie vergessen, ebenso sein Erlebnis bei der Bundeswehr.
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Daten und Fakten über Hamburg:
- Hamburg ist als Stadtstaat ein Land der Bundesrepublik Deutschland.
- Hamburg ist mit rund 1,9 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Deutschlands und die drittgrößte im deutschen Sprachraum.
- Das Stadtgebiet ist in sieben Bezirke und 104 Stadtteile gegliedert, darunter mit dem Stadtteil Neuwerk eine in der Nordsee gelegene Inselgruppe.
- Der Hamburger Hafen zählt zu den größten Umschlaghäfen weltweit.
- Die Speicherstadt und das benachbarte Kontorhausviertel sind seit 2015 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes
- International bekannt sind auch das Vergnügungsviertel St. Pauli mit der Reeperbahn sowie das 2017 eröffnete Konzerthaus Elbphilharmonie.
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Hamburg: Vom Feldkoch zum Scharfschütze
Dort wollte er Feldkoch werden, doch Aufgrund seiner Fähigkeiten beim Schießen wurde Alexander Harm als Scharfschütze eingesetzt. Das veränderte sein Leben für immer.
In Afghanistan, Kosovo und Somalia war er im Einsatz. Mehrere Jahre war er in Kriegsgebieten unterwegs. Bis er einen Unfall hatte, über den er nicht sprechen möchte.
2008 wurde er von der Bundeswehr Aufgrund von psychischen Problemen entlassen. Eine Nachsorge bekam er nicht. „Damals waren die Gesetze anders, jetzt kriegt man Nachsorge“, erzählt Alexander, während er auf seiner Decke auf dem Boden in der S-Bahn-Station liegt.
2012 bekam Alexander Prothesen in der Hüfte. Wegen seines Traumas kam er in einer Psychiatrie in der Nähe von Bielefeld unter. Auf einen Neuanfang freute er sich. Danach schloss Alexander eine Ausbildung zum Fachlageristen ab. Doch wegen seiner alten Verletzung konnte er nicht schmerzfrei arbeiten, er griff zu Morphin.
Die Sucht nach Morphin wuchs mit der Zeit. Das machte sein Leben zur Katastrophe. Süchtig ist er immer noch. Aufgrund seiner Sucht ist er bei seinen Eltern nicht mehr willkommen, deswegen lebt er nun seit fast zwei Jahren auf der Straße.
Auch bei niedrigen Temperaturen bleibt Alexander unter freiem Himmel. „Wir hatten ja Glück, als hier Minus zehn und Minus zwölf Grad war, haben uns viele Harburger unterstützt. Manche haben uns warme Suppe gebracht oder Decken“, so Alexander.
Hamburg: Traum vom Wohnwagen
Warum er nicht in eine der städtischen Notunterkünfte geht? „Das ist nichts für mich, da fühle ich mich unsicher. Die Leute saufen nachts und machen Randale. Man kann kaum schlafen, hier auf der Straße schläft man besser. Außerdem man kann ab 17 Uhr rein und muss am nächsten Tag spätestens um 9 Uhr die Unterkünfte verlassen.“
Ob er langfristig auf der Straße weiterleben wird, weiß er noch nicht. Sein Traum wäre es, einen Wohnwagen zu mieten, weil das günstiger als eine Wohnung in Hamburg ist. „Ich habe keine Lust mehr, auf der Straße zu leben. Ich werde alt. Ich habe ständig Schmerzen. Manchmal kann ich nicht schlafen ohne Gras zu rauchen“, so der 41-Jährige. Seinen Alltag verbringt er zwischen dem „Abrigado“ und der S-Bahn-Station.
Der Verein „Abrigado“ betreibt eine Kontakt- und Beratungsstelle mit einem integrierten Gesundheits- und Konsumraum. Dort werden verschiedene Hilfen für Konsumenten illegaler Drogen angeboten.
Im „Abrigado“ bekommt Alexander Essen und kann dort duschen. Manchmal hat er die Möglichkeit, sich neue Kleidung zu besorgen. An Lebensmittel zu kommen, ist nicht seine größte Sorge, weil er manchmal am Ende des Tages von Läden Essensreste bekommt.
DAS ist sein Lebensfehler
Seine größten Sorgen sind seine Schmerzen, die er mit dem Konsum von Cannabis behandelt. „Wenn ich meinen Dealer nicht finde, mache ich mir Sorgen. Weil ich ihn ja brauche, sonst kann ich die Schmerzen nicht ertragen. Doch zurzeit sind alle Dealer in Harburg schwer zu finden, nachdem die Schießerei vor zwei Wochen beim „Abrigado“ war“, ergänzt der ehemalige Boxer.
Als seinen größten Fehler bezeichnet Alexander seine Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen. „Die Bundeswehr hat mein Leben ruiniert, sonst wäre ich ein berühmter Boxer geworden. Und hätte eine Familie. Ich bin bis jetzt stark traumatisiert. Die Bilder von meiner Zeit bei der Bundeswehr kriege ich nie aus dem Kopf raus“, antwortet er.
Ob er sich auf Hamburgs Straßen vor etwas fürchtet? „Angst? Tja, ich habe nie Angst, ich habe viele gefährliche Situationen erlebt. Ich kenne das Gefühl nicht mehr“, so Alexander. Mit dieser Antwort weckt er viele Erinnerung in mir, denn das war auch meine Antwort, als ich noch in Syrien als Kriegsreporter in Aleppo unterwegs war.
Nun bleibt für Alexander zu hoffen, dass er bald wieder ein anderes Leben führen kann. Ein Kind kommt nicht mehr in Frage. „Ich bin jetzt 41 Jahre alt, welche Frau noch ein Kind mit mir haben will? Ich glaube, ich habe keine Chance mehr, eine Familie zu gründen, aber eine Partnerin wünsche ich mir“, hofft der Obdachlose.
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Zum Schluss räumt Alexander seinen Platz auf, damit ihn der Sicherheitsdienst nicht aus der S-Bahn-Station schmeißt. Dann geht er mit seinen wenigen Habseligkeiten zum „Abrigado“.
Was wäre, wenn Alexanders leben anders verlaufen wäre? Wie wäre mein Interview mit ihm gewesen, wenn er jetzt Hamburger Meister im Boxen wäre? Es sind Vorstellungen, die bestimmt auch den 41-Jährigen schon oft beschäftigt haben.
Wie viele ähnliche Fälle wie Alexander es auf der Straße gibt? Er ist mehr als ein Obdachloser. Mehr als ein Opfer. Mehr als eine Zahl.