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Hamburg: Corona-Not auf St. Pauli – „Viele Kiez-Menschen sind gestorben“

Hamburg: Corona-Not auf St. Pauli – „Viele Kiez-Menschen sind gestorben“

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Hamburg-St. Pauli: Keine Menschenseele im Vergnügungsviertel unterwegs. Foto: imago images/Hanno Bode

Dass die Reeperbahn, das Herz von Hamburg-St. Pauli eines Tages einer ausgestorbenen Geister-Meile gleichen wird, hätte sich kein Hamburger jemals vorstellen können. Doch mit Ausbrauch der Pandemie sind die Leuchtreklamen erloschen und die Bars, Clubs, Diskotheken lange Zeit dicht geblieben.

Inzwischen ist ein wenig Leben auf die sündige Meile in Hamburg zurückgekehrt. Doch Lockdowns und Beschränkungen haben ihre Spuren hinterlassen und den Menschen auf dem Kiez viel Leid verursacht. Eine, die das Ganze hautnah miterlebt hat, ist Tänzerin Eve Champagne, die im berühmten Pulverfass-Cabaret ihr neues Programm aufführt.

Hamburg: Ein Kiez voller Träume

Seit 15 Jahren lebt die Burlesque-Tänzerin auf dem Kiez. Hier hat sie ihre Bühnen gefunden. Als Eve Champagne damals im Queen Calavera Premiere feierte, war sie die Erste, die die aus den USA stammende Kunstform nach Deutschland brachte.

„Ich wollte unbedingt auf die Bühne, konnte aber weder singen noch entertainen. Durch meine Pin-Up-Sammlung habe ich das Burlesque für mich entdeckt und wurde Deutschlands erste Solo-Burlesque-Performerin“, erzählt sie im Gespräch mit MOIN.DE.

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Auf Youtube konnte Eve Champagne damals noch nicht zurückgreifen. Burlesque hat sie sich mühsam selbst aus Büchern und von Videokassetten beigebracht. „Die Kunst des Burlesque macht aus, dass es kein Alters- und Schönheitsideal gibt, sondern die Performance ist entscheidend. Es ist eine frauendominierte Welt, die emanzipiert ist und in der kein Bodybashing, aber dafür Sexpositivity herrscht. Durch und durch eine wundervolle Frauenwelt, die jetzt auch genderneutral wird, denn jetzt kommen die Boylesque- und Queerlesquetänzer*innen dazu.“

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Ihre ausdrucksstarken Shows, die sie mit aufwendigen Kostümen, perfekt abgestimmten Choreografien und jeder Menge Liebe für das Detail und die Musikauswahl ausschmückte, wurden schnell auch über den Kiez hinaus bekannt. Schließlich wurde Nachbarin Olivia Jones auf Eve aufmerksam und engagierte sie für ihr eigenes Programm.

„Sie hat mich als erste Cis-Frau mit in die Olivia Jones-Bar aufgenommen. Dort habe ich Kieztouren gemacht und wurde das Gesicht des Showclubs“, erzählt Eve Champagne. 2019 wurde das Bunny Burlesque eröffnet, wo die Künstlerin das Ruder übernahm.

Hamburg: Lampen aus auf der Reeperbahn

Doch dann begann die Pandemie und das Leben rund um die Reeperbahn kam mit einem gewaltigen Schlag zum Stehen. Seither kämpfen die Menschen des Viertels um ihre Existenzen. Auch Eve Champagne musste die Bühne verlassen. „Ich habe meine ganzen Kostüme bei Olivia rausgeholt, weil ich nicht mehr tanzen wollte. Die Pandemie hat mich so depressiv gemacht und es gab durch die Auflagen keine Möglichkeiten für uns Künstler*innen aufzutreten.“

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Aber die St. Paulianerin konnte mit dem Stillstand noch weniger anfangen und so suchte sie sich auf kreative Weise neue Beschäftigungsfelder. „Ich habe alles gemacht.“ Als die Erntehelfer ausblieben, arbeitete sie zunächst als Spagelstecherin. Zwischenzeitlich lieferte sie PCR-Proben vom Berliner Flughafen als Kurierfahrerin ins Labor nach Hamburg.

Sie unterstützte Daniel Schmidt, den Wirt des Elbschlosskellers, bei Spendenaktionen für die Bedürftigen und arbeitete schließlich im Impfzentrum an den Messehallen, wo sie die Verimpung der millionsten Dosis miterleben durfte. „Ich muss einfach beschäftigt werden“, sagt sie.

Hamburg: Aufstieg und Fall liegen dicht beisammen

Ihren Kiez hat sie währenddessen kaum wiedererkannt. „Am Anfang der Pandemie habe ich auf einmal Hauskatzen auf der Reeperbahn gesehen. Ich hab die Vögel zwitschern gehört, statt die Leute vögeln. Das war ein beklemmendes Gefühl. St. Pauli ist ein Viertel, in dem Aufstieg und Fall sehr dicht aneinander liegen. Der Aufstieg war weg, die Obdachlosen haben sich mit den Drückern fast die Köpfe eingeschlagen. Es gab kein Essen, kein Geld. Das war ganz furchtbar“, erinnert sich Eve Champagne.

Viele Kiez-Bewohner sind in dieser Zeit gestorben. „Durch die Einsamkeit, die Armut haben sich Menschen das Leben genommen. Die Bars waren zu, die letzten Orte, an denen man Zuflucht und Gesellschaft finden konnte, waren nicht mehr da“, berichtet sie.

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Daten und Fakten zur Reeperbahn:

  • Die Reeperbahn verläuft vom Millerntor in Richtung Westen bis zum Nobistor und ist 930 Meter lang
  • Die Reeperbahn erhielt ihren Namen von Taumachern und Seilern, den so genannten Reepschlägern, die für die Herstellung von Schiffstauen verantwortlich waren
  • Heute reihen sich zahlreiche Diskotheken, Bars, Strip-Clubs, Theater und Hotels auf der Reeperbahn aneinander
  • Auch bekannt als Hamburger Kiez ist die Reeperbahn die Anlaufstelle, wenn es um Vergnügung und Partyspaß geht
  • Weltweit ist die Reeperbahn auch als das Rotlichtviertel schlechthin bekannt und wird daher als „die sündigste Meile der Welt“ bezeichnet
  • Im Sommer zieht die Reeperbahn bis zu 50.000 Besucher am Wochenende an
  • Insgesamt besuchen rund 30 Millionen Menschen pro Jahr die Reeperbahn und ihre Seitenstraßen

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Hamburg St. Pauli: Ein Stadtteil hält zusammen

Doch eine Sache hat ihr und anderen Hoffnung gemacht: Der große Zusammenhalt und die Solidarität im Viertel. „Wir haben uns gegenseitig geholfen. Wer Geld hatte, hat seine Freunde und Kollegen unterstützt. Hooligans haben sich auf einmal mit albanischen Drogendealern zusammengetan und die Menschen unterstützt.“

Mittlerweile kann Eve Champagne wieder optimistischer in die Zukunft blicken. Beim Erzählen sprudelt es aus ihr heraus, seit Kurzem steht sie endlich wieder auf einer Bühne. Als erste Cis-Frau ist die Künstlerin nun Teil des Pulverfass-Ensembles und freut sich über ihre Rückkehr ins Showleben und die neuen Kollegen und Kolleginnen. Auch ihre Kiez-Touren werden bald wieder starten.

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„Das ist seelenheilend. Unsere Gäste sind uns wichtig. Und es ist wichtig, die Stadt wieder zum Leben zu erwecken. Hier werden Geschichten geschrieben und das soll auch weiterhin passieren. Wir wollen, dass dieser Stadtteil weiterhin legendär bleibt.“

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Langsam gehen die Leuchtreklamen, Clublichter und Scheinwerfer wieder an auf dem Kiez. Die Jukeboxen werden angeworfen und die Soundanlagen getesten. Und endlich wird es wieder hell und laut auf der Reeperbahn.

—— Anmerkung der Redaktion ——

Aus verschiedenen Gründen berichten wir normalerweise nicht über Suizide oder Suizidversuche – außer, wenn diese durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit erfahren.

Wir möchten eindringlich darauf hinweisen: Wer unter Depressionen oder Selbstmordgedanken leidet oder jemanden kennt, der daran leidet, kann sich unter anderem bei der Telefonseelsorge rund um die Uhr beraten lassen. Sie ist erreichbar unter der Telefonnummer 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.