Nach links, links, links. Daniel, Thomasz, Raul. Der Typ aus Hamburg mit dem ungepflegten Bart, der mit den irren Augen, der mit dem grausigen Hut. Ich habe alle drei bei Tinder weggewischt – natürlich habe ich sie weggewischt.
Laut Statistik lernen sich in Deutschland mehr Menschen über Dating-Apps kennen als im Club oder der Bar. Hängen wir wirklich mehr auf der Couch mit unserem Handy ab als draußen das echte Leben unter Menschen beim Tanzen zu genießen? Auch auf mich trifft das wohl ab und an zu. Besser gesagt: Es hat bis vor kurzem zugetroffen. Ich wohne schließlich in Hamburg – unter den 1,8 Millionen Menschen hier wird doch wohl jemand sein, der zu mir passt? Also habe ich Tinder immer noch eine Chance gegeben. Und dann noch eine. Bis jetzt.
Hamburg: Auf Wegen abseits der Online-Welt
„Boah ich hab‘ keinen Bock mehr auf den Scheiß hier!“, ich springe auf. Meine Mitbewohnerin schenkt uns Rotwein nach. Während der nächsten Gläser Wein werden wir uns darüber einig, dass man Menschen einfach persönlich treffen muss. Sich online zu matchen und ein paar Nachrichten zu schreiben, bringt nichts. Die ersten fünf Minuten – die sind dann entscheidend. Man weiß dann einfach, ob’s passen könnte, oder eben nicht.
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Weitere Gläser später hat meine Mitbewohnerin uns beim Speed-Dating angemeldet. Für den nächsten Abend. Noch versuche ich, mir daraus einen Spaß zu machen.
Am nächsten Morgen kann ich nicht mehr drüber lachen. Erste Zweifel kommen in mir auf. Was habe ich getan? Aber da muss ich jetzt durch. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Speed-Dating.
So funktioniert Speeddating:
- Speeddating heißt übersetzt „schnelles Kennenlernen“
- Die gleiche Anzahl von Frauen sitzt der gleichen Anzahl von Männern gegenüber (natürlich ebenso möglich: Frau-Frau und Mann-Mann)
- Die Teilnehmenden bekommen vom Moderator oder der Moderatorin Namenschilder, eine Nummer und einen Zettel für Notizen zu den anderen Teilnehmenden
- Die sich Gegenübersitzenden haben fünf Minuten Zeit sich kennenzulernen
- In der Regel liegen vor ihnen mögliche Fragen, die sie einander stellen können
- Nach fünf Minuten läutet die moderierende Person eine Glocke und die Paare werden neu gemischt
- Am nächsten Tag bekommen die Teilnehmenden eine E-Mail zugeschickt und tragen die Namen der Menschen ein, die sie gerne wieder treffen würden
- Wenn das Interesse beiderseitig ist, werden einander die Kontaktdaten zugesendet
Die Bar ist groß, zu groß. An den kleinen Holztischen um uns herum sitzen Freundesgruppen und Paare. Ich fühle mich, als sei ein Scheinwerfer direkt über mir angegangen, als wären alle Blicke auf mich gerichtet. Mir ist wahnsinnig unangenehm, was ich hier tue.
All die anderen Gäste der Bar müssen doch denken: Speed-Dating ist doch gar nicht zeitgemäß, das tut doch kein normaler Mensch in seinen Zwanzigern. „Normale Menschen“ – wann bin ich eigentlich so oberflächlich geworden? Und dann geht alles ganz schnell. Plötzlich sitzt mir Zac, dessen Namen wir wie die aller Teilnehmer geändert haben, gegenüber.
Zac ist schüchtern. Er lächelt verlegen. Auf dem großen Barhocker wirkt er etwas verloren. Vor uns liegen Karten mit Fragen darauf. Schon ahnend, dass Zac nicht der Mann meiner Träume ist, lese ich die erste Frage vor. „Kochst du gerne?“
Interessiert mich wirklich, ob Zac gerne kocht? Auf Englisch erklärt er mir, dass er noch kein Deutsch spricht. Er ist aus Indien und erst vor ein paar Monaten nach Hamburg gekommen.
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Er macht beim Speed-Dating mit, weil er einfach gern Leute in Hamburg kennenlernen würde. Krass – Zac ist nicht klein und verloren. Zac ist verdammt mutig. Er brauchte keinen Wein, um hier mitzumachen. Wir tauschen uns über Koch-Rezepte aus. Sein veganes Curry klingt genauso mutig wie er. Es klingt nach einer wilden Kombination aus irgendwie allem. Vielleicht interessiert mich doch, was Zac kocht. Die Glocke unterbricht unseren Redeschwall über veganes Essen. Und plötzlich sitzt mir der Nächste gegenüber
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Der Bart sieht verfilzt aus, sein schwarzes T-Shirt hat ein Loch am Kragen. Aber was soll’s? Die fünf Minuten kann ich mich ruhig mit Benny unterhalten. „Bockt schon hier, oder? Find’s super geil, so viele unterschiedliche Menschen kennenzulernen – einfach mal raus aus der Komfort-Zone der Online-Welt und ab auf die andere Seite – ins Offline“ – wow, ich mag Benny.
Oh man, ich glaube, ich wäre gern mehr wie er! „Hau‘ raus – was hörst du so für Musik?“ Und Benny stellt die richtigen Fragen…
Eine Stunde später bin ich überladen von Eindrücken. Zurück in der WG-Küche müssen wir die Ereignisse bei einem Glas Rotwein Revue passieren lassen. Wobei meine Erkenntnis eher nach einem Tequila schreit.
Ach ja, was dachte ich doch, weltoffen zu sein, tolerant und frei von Vorurteilen. Vielleicht lag ich da nicht ganz richtig. Nächste Woche gehe ich jedenfalls mit Benny auf ein Konzert.
Und Zac kommt am Wochenende in der WG vorbei und zeigt uns sein Geheimrezept für indisches Curry. Ich glaube, ich habe echte Freunde gefunden – dort draußen in der Offline-Welt.
Eine Love-Story ist dies aber nicht. Oder doch? Vielleicht war es eine Liebeserklärung an die andere Seite der Welt – die Offline-Welt, in der wir uns gegenübersitzen und sprechen – mit Menschen, die wir nach links geswiped hätten, weil der Bart zu ungepflegt aussah.
Kleiner Tipp an alle Online-Datende: Probiert doch auch mal das richtige Leben aus und geht raus auf die andere Seite der Welt – ins Offline!