Mit Schwung wirft Benjamin Kotowski ein Bündel Reet an der auf das Dach des denkmalgeschützten Bauernhauses. Oben auf der Leiter steht sein Kollege, Reetdachdeckermeister Peter Heinrich. Geschickt fängt er das Bündel und macht sich daran, es auf dem Dach zu befestigen. Noch zwei Lagen fehlen bis zum Dachfirst, dann ist diese Seite fertig gedeckt. Besonders in Norddeutschland prägen Reetdächer das Landschaftsbild, zum Beispiel an der Ost- und Nordsee wie in Nieby in Schleswig-Holstein.
Gefragt sind sie aber weit über die Nordsee-Region hinaus. Neue Reetdachdecker fehlen jedoch vielerorts. „Wir haben einen hohen Bedarf an Nachwuchs“, sagt Heinrich.
Viel Arbeitsaufwand für Reetdachhäuser an der Nordsee
Seit 2014 ist das Dachdecken mit Reet immaterielles Kulturerbe, die deutsche Unesco-Kommission bezeichnet es als eine der ältesten Handwerkstechniken beim Hausbau. Diese erfolgt auch heute noch ausschließlich von Hand – das bedeutet harte körperliche Arbeit.
Gut zehn Tonnen Schilf und 240 Arbeitsstunden benötigen Heinrich und seine Kollegen, um die 240 Quadratmeter Dachfläche des Bauernhauses im niedersächsischen Dötlingen zu erneuern. Nicht mit eingerechnet ist die Zeit für den Abriss des alten Daches und die Erneuerung der tragenden Holzbalken.
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Für jede neue Lage legt Heinrich die Bündel zunächst nebeneinander und fixiert sie mit einem stabilen Draht, der quer über das Dach läuft. Diesen wiederum verbindet er über dünnere Drähte mit der unterliegenden Holzkonstruktion, bevor die Bündel geöffnet und sortiert werden.
Weitere Drähte folgen, bevor der Reetdachdeckermeister mit dem sogenannten Klopfbrett, das ein wenig an eine Schaufel erinnert, die Halme in Form bringt. 18 Lagen geht es so Bündel für Bündel bis zum Dachfirst hinauf.
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Nordsee: Reet ist nicht billig
Im Vergleich zu Ziegeldächern sei das Decken mit Reet deutlich aufwendiger und teurer, sagt Heinrich. Doch das natürliche Material bietet Vorteile: „Reetdächer funktionieren wie eine natürliche Klimaanlage. Die Luft im Halm ist die beste Isolierung überhaupt.“ Im Sommer bleibe es drinnen schön kühl, im Winter warm. Noch dazu sei es ökologisch.
„Reet muss nur geerntet und transportiert, der Ton für Ziegel nach dem Stechen noch gebrannt werden. Außerdem wächst Schilf jedes Jahr neu auf“, sagt Katrin Jacobs, Vorsitzende der Bundesfachgruppe Reet im Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH). Das mache die Klimabilanz von Reet um ein Vielfaches besser als die von Ziegeln und ähnlichen Materialien, sagt die Dachdeckermeisterin, die außerdem Deutschland in der „International Thatching Society“ (ITS) vertritt.
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Zu der Gruppe gehören alle Länder, in denen Reetdachdecker in einer Innung oder Gilde organisiert sind – neben Deutschland sind das zurzeit Holland, Großbritannien, Schweden, Südafrika, Dänemark und Japan. Sie tauschen sich regelmäßig zu aktuellen Fragen aus – so auch über die Herkunft des Reets. Die europäischen Länder beziehen es zum großen Teil aus China, Ungarn, Rumänien, Polen, dem Baltikum oder auch Österreich und der Türkei.
Aufgrund steigender Containerpreise im Zuge der Corona-Pandemie wichen viele Länder 2020 vom chinesischen auf den osteuropäischen Markt aus, sagt Jacobs. In Deutschland ist das Mähen aus Vogel- und Naturschutzgründen oft nicht möglich.
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10 Reise-Tipps für die Nordsee:
- Lütetsburg
- Cuxhaven
- Sankt Peter-Ording
- Wattenmeer, zum Beispiel Neuwerk oder Nordstrand
- Husum
- Niedersachsens Küste: Neuharlingersiel, Dangast, Greetsiel
- Festlandorte in Schleswig-Holstein, zum Beispiel Brunsbüttel
- Ostfriesische Inseln
- Sylt
- Schleswig-Holsteins Nordsee-Inseln (Föhr, Amrum, Helgoland)
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Mehr als 50 Jahre Lebenszeit
Dachdeckermeister Heinrich wohnt selbst in einem Reethaus. Wie er erklärt, machen Bauweise und Materialien die Dächer wartungsintensiver, doch bei regelmäßiger Überprüfung stünden sie Ziegeldächern in Sachen Haltbarkeit in nichts nach und könnten gut 50 Jahre überdauern. Erste Ausbesserungen stünden in der Regel nach etwa 15 Jahren an, danach etwa alle 5 Jahre. Oft müssten kleinere Löcher gestopft werden. „Vor allem Krähen oder Elstern zupfen gerne mal den einen oder anderen Halm raus“, sagt Heinrich.
Damit es nur bei kleineren Ausbesserungen bleibt, muss beim Decken einiges beachtet werden. Feuchtigkeit stellt ein großes Risiko dar. Nasse Halme bieten einen idealen Nährboden für Pilze oder Algen, die zu einem vorzeitigen Verfall führen können. Vor allem zwischen 2007 und 2009 gab es auffällig viele Reetdächer, die vorzeitig baufällig wurden und erneuert werden mussten. Etwa in Niedersachsen empfahlen Landesdenkmalämter damals, vorläufig nicht mehr mit Reet zu decken.
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In einem Forschungsvorhaben der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) versuchten verschiedene Institute und Experten auf Antrag des Berufsbildungsvereins des Dachdeckerhandwerks Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig Holstein, die Ursachen zu finden. Die Befürchtung, der verfrühte Verfall könnte an einer besonderen Anfälligkeit für Schimmelpilze oder Schädlinge liegen, wurde dabei nicht bestätigt.
Im Gegenteil: Unter Führung der Gesellschaft zur Qualitätssicherung Reet (QSR) kamen die Experten im Abschlussbericht der DBU zu dem Ergebnis, dass mangelnde Materialqualität durch fehlerhafte Lagerung des Reets, planerische und handwerkliche Mängel beim Bau oder unpassende Standorte Hauptursachen waren.
Ferienhäuser mit Reetdach an der Nordsee
Die Verunsicherung durch den Pilzbefall ist laut Dachdeckermeister Heinrich im Bremer Umland noch an einer leicht gesunkenen Nachfrage zu spüren – andernorts ist die Nachfrage aber enorm hoch. „Früher war Reet Zeichen für eine ärmliche Behausung. Aber das hat sich in den letzten Jahren deutlich geändert“, sagt der Obermeister der Reetdachdecker-Innung von Schleswig-Holstein, Hans-Hermann Ohm. Nicht nur im Norden, sondern in ganz Deutschland und anderen Ländern wie Holland, Dänemark oder sogar Japan und Südafrika liegen Reetdächer laut Ohm derzeit stark im Trend.
In Nieby in Schleswig-Holstein entstand in den vergangenen Jahren auf dem alten Gelände einer Bundeswehr-Kaserne ein Park mit 48 Ferienhäusern. Unter anderem aufgrund der Nähe zum angrenzenden Naturschutzgebiet Geltinger Birk entschlossen sich die Investoren, alle Häuser mit Reet zu decken. „Die Bauweise ist für diese Region typisch. Die Häuser sollten sich ins Gelände einfügen, also vor allem harmonisch mit der Natur sein“, sagt Investorin Marion Essing. Die Rückmeldungen der Gäste seien bisher durchweg positiv.
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Das ist die Nordsee:
- die Nordsee ist ein Randmeer des Atlantischen Ozeans
- die Nordsee ist ein wichtiger Handelsweg und dient als Weg Mittel- und Nordeuropas zu den Weltmärkten
- die Fläche beträgt 570.000 Quadratkilometer
- sie ist bis zu 700 Meter tief
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Dass die meisten Reetdächer in Norddeutschland anzufinden sind, hat laut Obermeister Ohm auch historische Gründe: Im Norden gab es schon immer viele Wasserflächen – und damit das Baumaterial Schilf. Dementsprechend sind auch die meisten Dachdecker, die sich auf Reet spezialisiert haben, in den nördlichen Bundesländern angesiedelt.
Zwischen 150 und 200 Reetdachdecker gebe es im norddeutschen Raum, von denen sich 77 in speziellen Innungen in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen organisiert haben. Im Rest der Bundesrepublik sind nur vereinzelt Experten zu finden, so dass die norddeutschen Reetdachdecker regelmäßig für Aufträge durch das ganze Land fahren, wie Ohm erklärt.
Mangel an Nachwuchs
Der hohen Nachfrage nach Reetdächern steht ein Mangel an Nachwuchs, der das Handwerk erlernen will, gegenüber. Dabei können sich angehende Dachdecker bereits während ihrer Ausbildung auf Reet spezialisieren, indem sie ihre Abschlussprüfung in dieser Fachrichtung ablegen. Pflichtstation dafür ist das bundesweit einzige Ausbildungszentrum für Reetdachdecker in Blankensee bei Lübeck.
Von den deutschlandweit knapp 2.000 Dachdeckerlehrlingen, die sich nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH) 2020 im dritten Lehrjahr befanden, gingen dem Ausbildungszentrum Blankensee zufolge nur 6 diesen Schritt.
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Wer sich für den Beruf interessiert, sollte laut Dachdeckermeister Heinrich eine gewisse künstlerische Begabung mitbringen. Das sei vor allem bei der Ausgestaltung von Giebeln, Erkern oder Eingangsbereichen wichtig. Ansonsten dürfen angehende Reetdachdecker nicht vor körperlicher Arbeit zurückschrecken.
Tauschen möchte Heinrich seinen Beruf trotzdem nicht. „So unmittelbar mit der Natur zu arbeiten und dann der wunderschöne Anblick des fertiges Daches: Ich könnte mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen.“ (dpa/rg)